Ein Nachruf auf den Schweizer Pianisten, Dirigenten und Komponisten Jürg Wyttenbach

27.12.2021

Juerg Wyttenbach beim Dirigieren

Er galt als der Mann, an dessen Fingern Saugnäpfe zu wachsen schienen. Der Pianist Jürg Wyttenbach konnte damit am Klavier nahezu alles vom Blatt spielen. Seine Fähigkeit, als Pianist und Dirigent die schwierigsten Partituren zum Klingen zu bringen, war ein Phänomen. Unter den Pianisten des 20. Jahrhunderts galt er als einer der ersten und besten Spezialisten für die zeitgenössische Musik.

Jürg Wyttenbach wurde 1935 in Bern geboren und erhielt am dortigen Konservatorium Unterricht bei Kurt von Fischer (Klavier) und Sandor Veress (Komposition). Ab 1955 setzte er seine Ausbildung am Pariser Konservatorium bei Yvonne Lefébure (Klavier) und Joseph Calvet (Kammermusik) fort und wechselte dann zum Pianisten Karl Engel nach Hannover, wo er 1959 sein Konzertexamen ablegte. Im selben Jahr gewann er sowohl den Concours de Genève als auch den Berner Josef-Pembauer-Preis und entfaltete anschliessend als Pianist und Dirigent eine rege Konzerttätigkeit. Regelmässig trat er bei den Festivals für Neue Musik auf und dirigierte über einhundert Werke zeitgenössischer Komponisten, viele als Uraufführungen. Wyttenbach leitete Spezialformationen wie das Ensemble Modern, das Klangforum Wien, das Ensemble recherche und das Ensemble der IGNM Basel, das er mit begründete. Er dirigierte aber auch die Dresdner Philharmonie, die Basel Sinfonietta und die grossen deutschen Rundfunkorchester. Zusammen mit Rudolf Kelterborn und Heinz Holliger gestaltete er ab 1987 die Konzertreihe Basler Musik-Forum. Aus der Jugendfreundschaft mit dem Liedermacher Mani Matter entstand 2015 am Lucerne Festival eine Uraufführung und Hommage aus Wyttenbachs Feder. Von seinen zahlreichen CD-Veröffentlichungen wurde insbesondere seine Gesamteinspielung der orchestralen Chorwerke von Giacinto Scelsi berühmt, die mit dem Grand Prix du Disque und dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde. Parallel zu seiner vielseitigen Konzerttätigkeit entstand ein umfangreiches kompositorisches Œuvre mit einem unverwechselbaren Schwerpunkt im Bereich des instrumentalen und vokalen Theaters. Wyttenbachs Vorbild war der französische Schriftsteller Francois Rabelais, dessen Figuren Gargantua und Pantagruel ihn als Komponist inspirierten. Als musikalischer Leiter verantwortete Wyttenbach in den siebziger und achtziger Jahren zahlreiche originelle Aufführungen mit Avantgardemusik am Theater Basel und in den Konzerten der IGNM, dazu zählten auch insbesondere die Auftritte als Duo mit seiner Frau, der Pianistin Janka Wyttenbach.

Nach früher Lehrtätigkeit in Biel und Bern unterrichtete Wyttenbach von 1967 bis 2001 an der Musik-Akademie Basel Klavier und seit 1970 auch die Interpretation zeitgenössischer Musik, die damals zu einem Schwerpunkt in der Basler Musikausbildung wurde. Das Musikmachen verstand Wyttenbach als handwerkliches Können: „Musik lehren, lernen und machen ist nicht Psychologie und Wissenschaft, sondern Handwerk und Arbeit“, sagte Wyttenbach. Dieser Überzeugung blieb er ein Leben lang treu. Als er selbst Ende der sechziger Jahre zusammen mit dem Flötisten Aurèle Nicolet die Sonatine für Flöte und Klavier von Pierre Boulez einstudierte, arbeitete er daran ein ganzes Jahr. Wyttenbachs eigene Schüler, darunter die Pianisten Stefan Litwin und Jürg Henneberger, brauchten dafür dann später weit weniger Zeit. Auf dieses „Accelerando“ beim Erlernen Neuer Musik, an dem er als Lehrer einen wesentlichen Anteil hatte, war Wyttenbach stolz. Zu den von ihm geschätzten Komponisten zählten Béla Bartók, Igor Strawinsky, Charles Ives und Ludwig van Beethoven.

Nach seiner Pensionierung widmete Wyttenbach sich vertieft den späten Klaviersonaten von Beethoven. Daraus entstanden eindrucksvolle Lecture Recitals und Wyttenbachs Rekonstruktion der Erstfassung des dritten Satzes von Beethovens Klaviersonate in E-Dur op. 109, indem Wyttenbach sechs Skizzen Beethovens in akribischer Arbeit auskomponierte. Die letzten Jahre waren von schwerer Krankheit überschattet, die Wyttenbach mit bewundernswert stoischer Geduld ertrug. Nun ist Jürg Wyttenbach am 22. Dezember 2021 im Alter von 86 Jahren in Basel gestorben. Er wird uns fehlen.

Martina Wohlthat, Musik-Akademie Basel